Mein Artikel in der Zeitschrift ImPulse Dez. 2015
Loslassen
„Lass los …“ lesen wir so oft in spirituellen oder psychologischen Ratgebern, hören wir in Seminaren und von anderen Menschen, die uns empfehlen, einfach mal loszulassen. „Du musst loslassen …“ rät uns vielleicht ein guter Freund, eine gute Freundin. Klingt erst mal einleuchtend! Aber was bedeutet das? Und vor allem: Wie geht das? Lassen wir die Hand eines Kindes los, weil es alt genug ist, allein zu laufen, dann können wir das noch nachvollziehen. Es ist eine Handlung: Wir lassen die Hand des Kindes los! Aber wie ist das mit dem Loslassen der Vergangenheit, von Situationen, Begebenheiten und anderen Menschen?
Es klingt so leicht. Wir wollen nicht in den alten Beziehungen, die uns nicht gut tun, verharren. Wir wären dankbar, könnten wir schmerzvolle Erfahrungen aus unserer Erinnerung so einfach auslöschen. Wir wollen die alten Glaubenssätze loslassen und durch neue ersetzen. Wir wünschen uns vielleicht von ganzem Herzen, negative Gefühle, wie Wut, Trauer, Enttäuschung, Selbstzweifel, Schuld etc. ganz einfach loslassen zu können. Und wir versuchen sogar, unsere Verstorbenen loszulassen, damit wir (und sie) frei sind, unser Leben neu zu gestalten. Denn loslassen heißt ja nicht, jemanden zu vergessen!
Es gibt so viele Lebenssituationen, in denen wir verharren, manchmal aus Trägheit, oft aus Angst vor Veränderung oder vor dem Unbekannten, zuweilen aber auch, weil wir nicht wissen, wie wir es ändern können. Tatsache ist jedoch: Wenn wir nicht loslassen, gefährden wir unsere Gesundheit, zuerst blockieren wir unsere Entwicklung, behindern unsere Selbstentfaltung, verraten uns selbst und folgen ganz bestimmt nicht unserem Seelenplan, in der Folge werden wir auch körperlich krank. Denn das, was oder an dem wir festhalten, obwohl es nicht mehr zu uns gehört, entzieht uns Energie, macht uns kraftlos und lässt unseren Geist und / oder unseren Körper erkranken. Und es sind nicht nur Situationen, sondern vor allem unsere Gedanken, die uns an dem festhalten lassen, was wir „eigentlich“ nicht mehr wollen. Unser Verstand kreist immer wieder um diese Erfahrungen, die uns schmerzvoll an unser Versagen erinnern, an die ungenutzten Chancen, die ungewollten Umwege, die unbefriedigenden Beziehungen, die nicht erreichten Ziele, die unausgesprochenen Gefühle … und so weiter.
Was passiert, wenn wir nicht loslassen?
Es gibt zahlreiche Symptome, die sich sowohl auf körperlicher als auch auf seelischer Ebene manifestieren, deren Ursache häufig ein – unbewusstes – Festhalten ist. Angefangen von psychosomatischen Beschwerden, Schlafstörungen, mangelnde Konzentration, Essstörungen, Süchte, unerklärbare Kopfschmerzen, bis hin zu Selbstverachtung, Ohnmachtsgefühle und Depressionen.
Also loslassen! Aber wie? Schließlich handelt es sich nicht um einen Gegenstand, der, wenn ich meine Hand öffne, von selbst herausfällt. Wie schön, wenn es so einfach wäre, nicht wahr?
Aber es ist leicht, wenn man weiß, wie!
Aus meiner Erfahrung ist das Loslassen ein Prozess, es geschieht leider nicht auf Knopfdruck! Denn eins ist klar: Alles, was wir über Jahre oder gar Jahrzehnte in unser Zellsystem „eingespeist“ haben, kann nicht durch eine therapeutische Sitzung, ein paar Globulis oder Heilbehandlung aufgelöst werden. Es erfordert weiterhin vor allem: Mut zur Selbsterkenntnis und die Bereitschaft, Selbstverantwortung zu übernehmen.
Viele Wege führen nach Rom!
Um loszulassen, müssen wir erst einmal ganz individuell erkennen, was wir festhalten oder woran wir uns klammern, worin wir noch verharren. Wenn es Situationen sind, die wir definitiv nicht ändern können, sollten wir sie akzeptieren, wie sie sind. Aber Vorsicht: Hier sollte man wirklich prüfen und unterscheiden lernen: Was kann ich ändern und was nicht! (in diesem Zusammenhang finde ich das „Gelassenheitsgebet“ hilfreich: Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann; den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann; und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. – wer nicht an Gott glaubt, kann es natürlich beliebt ersetzen. Letztendlich geht es nur darum, unterscheiden zu lernen: was liegt in meiner Macht und was nicht.)
Oder wir befreien uns aus Situationen, die uns schaden, trennen uns z.B. von Menschen, die uns immer wieder enttäuschen (auch wenn die Ent-täuschung, also das Ende einer Täuschung, aus höherer Sicht einen tieferen Sinn hat) und uns nicht gut tun. Wir beenden Beziehungen, die uns an unserer eigenen Entwicklung behindern. Wir kündigen Arbeitsstellen, bei denen wir uns tagein, tagaus abquälen. Es gibt immer eine Lösung, wenn wir offen dafür sind.
Erster Schritt ist die Erkenntnis dessen, was wir loslassen sollten. Als nächstes die „reine Absicht“! Wir erklären vor uns selbst, dass wir ganz bewusst akzeptieren, was ist (wenn wir sicher sind, dass wir es nicht ändern können, z.B. andere Menschen kann man nicht ändern! Wir können uns nur selbst ändern!). Wir treffen also eine reale Entscheidung. Darauf – also auf die reine Absicht – muss eine Handlung folgen. Festhalten findet seinen Ursprung zwar in Gedanken und Gefühlen, die als Informationen in unseren Zellen abgespeichert werden, aber es muss auch durch den Verstand und eine Art Handlung vollzogen werden. Im folgenden Schritt entziehen wir, wenn wir eine klare Entscheidung getroffen haben, ab diesem Augenblick der belastenden Situation, Person oder ungeliebten Gewohnheit jegliche Aufmerksamkeit und lenken unseren Fokus darauf, was wir stattdessen erreichen und leben wollen. Das bedeutet auch, dass wir kreisende Gedanken um das besagte Thema, z.B. um den Verlust eines Menschen, Verletzungen oder diffuse Ängste, wahrnehmen und umwandeln. Wir akzeptieren ein für alle Mal, dass es auf der Welt ungerecht zugeht und wir über vieles nicht die Macht haben, es zu ändern. (Wobei wir natürlich das, was wir verändern können – also bei uns angefangen –, auch ändern sollten!) Wir akzeptieren, dass andere Menschen nicht so handeln, wie wir es wünschen und schon gar nicht, wie wir es selbst tun würden. Wir hören auf, uns mit anderen zu vergleichen, das macht total frei. Wir erkennen an, dass wir nicht perfekt sein müssen, weder im Job noch in der Familie oder in der Freizeit. Wir akzeptieren, dass es nicht bedeutet, wertlos zu sein, wenn wir keinen Partner haben oder von diesem betrogen werden; es bedeutet nicht, versagt zu haben, wenn wir nicht gelobt oder befördert werden. Wir bejahen eine Situation, über die wir keine die Macht haben, allerdings ohne Wertung, und sagen: Es ist wie es ist. Punkt! Annehmen, was nicht zu ändern ist. Das ist eine Form des Loslassens. Gleichzeitig machen wir uns bewusst: Wir allein sind Herrscher / Herrscherin über unsere Gefühle. Denn Gefühle entstehen durch Gedanken und Gedanken können wir bewusst beeinflussen, indem wir beobachten, Achtung nicht bewerten!, was wir den ganzen Tag über so denken. (erfordert ein bisschen Übung, aber es funktioniert!) Kommen Gedanken auf, die sich um ein belastendes Thema drehen, nehmen wir diese an und lassen sie los. (z.B. mit einem inneren Satz: „Ich akzeptiere es, dass … und ich lasse diesen … Gedanken, Gefühle jetzt los.“ Aufmerksamkeit umlenken!) Und wir sollen andere Menschen meiden, die ebenso in ihren „Sümpfen“ verharren, denn sie ziehen uns bloß immer mit hinunter.
Es gibt zahleiche Möglichkeiten, das „Kopfkino“ auszuschalten, und es gibt viele Techniken, Therapie- und Behandlungsformen. Es gibt für jeden die richtige Hilfe zur Selbsthilfe. Wichtig ist nur, dass wir auf keinen Fall in Selbstvorwürfe verfallen, weil wir es so weit haben kommen lassen (Entwicklung braucht seine Zeit), die innere Bereitschaft zum Loslassen haben und auch bereit sind, heil zu sein. In diesem Sinne wünsche ich allen einen erfolgreichen Heilungsprozess.